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„Dat Lowisken Thiel makt nich bloß School, die liährt für`t Lewen“

Eine Absolventin der Pädagogischen Hochschule und Gasthörerin der Bergischen Universität erinnert sich… Ein Wuppertaler Beispiel für Lebenslanges Lernen

„Mit meiner Schulbildung, d.h. acht Jahre Volksschule, war ja nichts zu machen“, sagt Luise Thiel, und erklärt, wie sich Zeit und Umstände auf ihr langes Leben ausgewirkt haben. „Damals, 1938 ging man entweder als Lehrling in den Verkauf oder aufs Büro“. Eine andere Alternative gab es nicht. Nur von einem weiß sie, der aus ihrer damaligen Klasse schon das Gymnasium besuchen konnte. Das Schulgeld machte vielen Familien die Förderung ihrer Kinder unmöglich. Ihrer Mutter verdankt die 13-jährige Luise immerhin den Besuch der Privatschule Flockenhaus in Barmen, in der sie parallel zur Schule Stenographie und Schreibmaschine lernt. „Ich konnte also 120 Silben Stenographie und zehn Finger blindschreiben. Das war ein Riesenvorteil“, erklärt sie und konnte sich damit bei ihrer Bewerbung in einem Architekturbüro gegen 129 Bewerber durchsetzen.

Das von den Nationalsozialisten eingeführte sogenannte Pflichtjahr - es galt für alle Frauen unter 25 Jahren und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft- verbringt Thiel in einem Forsthaus im Solling. Die harte Zeit ohne fließend Wasser und Strom lässt sie die kommenden entbehrungsreichen Jahre des Krieges besser ertragen. Zurück zu Hause ist der Krieg mittlerweile in vollem Gange. Der Russlandfeldzug hatte 1941 begonnen und die nächsten zwei Jahre sind mit Freude und Trauer erfüllt; Freude über die Geburt ihrer jüngeren Schwester und Trauer über den Barmer Angriff im Mai 1943, der den Eltern die Existenz –das in Barmen bekannte Lebensmittelgeschäft Thiel- raubt. „Mein Vater hatte aber acht Tage nach dem Bombardement schon wieder ein neues Ladenlokal in Barmen“, erzählt sie stolz, doch den zweiten Angriff auf Barmen im März 1945 überlebt auch er nicht. „Und dann standen wir da, meine Mutter, die kleine Schwester und ich. Mein Bruder war nicht da, ich habe noch einen Bruder, der war irgendwo in Italien an der Front. Meine Mutter sagte: Ja! Und was machen wir jetzt? Ich sagte: Wir machen weiter! Es geht nicht anders.“

Ein gut florierendes Geschäft – und das habe ich gar nicht gerne gemacht

Achtzehn Jahre lang lenkt sie an der Seite ihrer Mutter die Geschicke des Lebensmittelgeschäfts, besorgt Waren vom Großmarkt, verkauft, rechnet ab.

Zwei Verkäuferinnen können später noch eingestellt werden. Und trotzdem, sagt sie, „ich habe das gar nicht gerne gemacht“. Ein Zufall ändert dann noch einmal ihr Leben. Die überraschende Kündigung des Ladenlokals 1961 zwingt Thiel dazu, über eine andere Zukunft nachzudenken. Bereits früher hatte sie versucht, sich an der Pädagogischen Hochschule zu bewerben. „In den 50er Jahren habe ich mich schon einmal an der Hochschule bei Professor Hammelsbeck beworben. Und der war ganz entsetzt und sagte: Nein! Mit 28 Jahren kann man doch nicht mehr studieren! Das geht nicht“, sagt sie lächelnd.

Es ist der guten Kundschaft des elterlichen Geschäfts zu verdanken, dass sie dennoch eine neue Chance erhält. Der ehemalige Leiter der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal, Professor Hermann Schlingensiepen, engagiert sie als Mitarbeiterin. Thiel tippt Bücher, schreibt seine Korrespondenzen, „er hatte einen riesigen Briefwechsel, Martin Buber und der Papst, da kam alles vor“ sagt sie und erklärt: „Das war natürlich eine außerordentlich gute Lehre und es war ein guter Umgang mit dem Professor. Ich war das ja gar nicht gewöhnt. Ich kannte ja nur Kunden, Lebensmittelgeschäft und Großmarkt.“ Für die nächsten zwei Jahre schreibt sie, liest und erweitert ihren Horizont.

Damals herrschte Lehrermangel. Unter Kultusminister Paul Mikat wurde die Altersgrenze für Begabtensonderprüfungen heraufgesetzt. 1964 besteht Thiel diese Prüfung und beginnt im Sommersemester des gleichen Jahres mit 40 Jahren ihr Studium an der Pädagogischen Hochschule auf der Hardt. Und dann fing das Studium an. Das war eigentlich die schönste Zeit.

Thiel wird sehr emotional, wenn sie über diese Zeit spricht, da sie die Möglichkeit eines Studiums zu dieser Zeit kaum noch erhoffte. „Also ich hatte Deutsch als erstes Wahlfach und evangelische Religion als zweites Wahlfach. Dann hatte ich Übungsscheinfächer, die musste man aus dem naturwissenschaftlichen und dem künstlerischen Bereich wählen. Da habe ich Biologie bei Professor Lauterbach und Kunsterziehung bei Professor Schwenk gewählt.“ Weil ihr das Wort „Hermeneutik“ nicht einfällt, versagt man ihr bei der Abschlussprüfung die angestrebte Note eins. „Diese Pädagogische Hochschule und dieser ganze Ausbildungsbereich hat für mich so einen bestimmten Nimbus, und ich denke gerne daran zurück, denn ich hätte es ja nie für möglich gehalten“.

Hauptschule Hügelstraße und „Die Katze“

Zunächst an der Volksschule Wittener Straße eingesetzt, erlebt die frischgebackene Lehrerin die Umstellung in Primar- und Sekundarstufe und geht 1968 an die Hauptschule in Oberbarmen. Dort bleibt sie bis zu ihrer Pensionierung. Viele Anekdoten über Schüler, Lehrer und Eltern kann sie berichten, doch besonders interessant ist die Geschichte über ein Gedicht der Lyrikerin Marie Luise Kaschnitz. „Es war eigentlich eine Prüfungsgeschichte“, erzählt sie, „ich hatte das Gedicht `Die Katze´ in meinem Schuljahr und eine andere Probandin, die in der Prüfung stand, hatte es auch gewählt. Wir hatten unterschiedliche Interpretationen. Und dann hat Frau Demandt (ihre Dozentin an der Pädagogischen Hochschule) gesagt: Ja, aber das geht ja nicht. Dann müssen wir ja eigentlich wissen, welche Interpretation zutrifft.“ Daraufhin schrieb die Dozentin einen Brief an die Autorin, in der sie die unterschiedlichen Interpretationen schilderte. Sie wollte die Meinung der Schriftstellerin einholen. Diese antwortet postwendend und klärt auf. Auszug aus dem Brief von M.L. Kaschnitz: „ … Die Katze ist, oder war für mich ein dämonisches Wesen. Es gab sie natürlich. Sie gehörte (…) einem Studenten, der in der Mansarde wohnte. Das Trümmergrundstück, in dem sie verschwand, war in unserer Straße. Soweit das Biographische. (…) die Trümmerwelt 1945 bis 1947 in der Großstadt war an sich eine dämonische Landschaft. Aber das wissen die Kinder nicht und können es sich nicht vorstellen. Der Eingriff des Menschen ist in der Tat anmaßend, so habe ich es gemeint. (…)“

„Ich war sehr gerne im Amt“, sagt Thiel, die auch unkonventionelle Wege beschritt. Wie viele andere Kolleginnen und Kollegen ging auch sie sehr idealistisch an ihre Arbeit, hatte sich die Zusammenarbeit mit den Schülern oft leichter vorgestellt. Aber immer dann, wenn zu viel Unruhe herrscht, „dann habe ich gedacht, na gut, irgendwas musst du dir einfallen lassen“. Aufmerksame Mitarbeit im Unterricht vergütet sie mit dem Weglassen der Hausaufgaben, durch Projektarbeit stärkt sie den Klassenzusammenhalt und in ihren Theaterprojekten steigert sie das Selbstwertgefühl der Darsteller. „Ich habe einfach gemacht, wie ich es für richtig hielt und wie es für die Kinder angebracht war, nach meinem Dafürhalten“, betont sie bestimmt. Mehrere ihrer Projekte werden ausgezeichnet und sogar monetär honoriert.

Bei der Benotung drückte sie auch schon mal ein Auge zu, wenn es die Zukunft der Schüler förderte. Einen zusätzlichen Punkt, der die Qualifikation dann doch möglich machte, um die erhoffte Lehrstelle zu bekommen, fand sie immer.


Eine engagierte Gasthörerin

Nach dem Ende ihrer Dienstzeit gerät die Bergische Universität mit ihrem vielfältigen Seniorenangebot wieder in Thiels Fokus. Sie informiert sich vor Ort, trägt sich als Gasthörerin ein und besucht in den nächsten 13 Jahren viele Veranstaltungen im geisteswissenschaftlichen Bereich. Die Angebote der Literaturwissenschaftlerin Dr. Heinke Wunderlich beeindrucken sie dabei am stärksten. „Ich habe Literatur bei Frau Dr. Wunderlich belegt. Sie bot damals ein Theaterseminar an. Das war natürlich genau das richtige, sehr anspruchsvoll. Man hatte ein Seminar in der Woche, bereitete das Theaterstück vor, das man dann in der gleichen Woche sah und musste auch eine Nachbereitung am nächsten Seminartag vortragen. Die Theaterbesuche erstreckten sich über ganz Nordrhein-Westfalen. Wir waren mal in Mühlheim, in Bonn, in Düsseldorf, auch mal in Neuss. Also es war eine hochinteressante Zeit, ich war voll engagiert und habe auch manche Referate gemacht.“


Freies Theater und Kinofilm

Aber damit nicht genug. Luise Thiel schließt sich mit 68 Jahren einer studentischen Theatergruppe an und bewirbt sich für Filmaufnahmen in der Stadthalle. „Es gab an der Uni eine Studententheatergruppe und der Leiter der Studentengruppe, Herr Blass, bei dem habe ich mich angemeldet und habe gesagt, ich würde gerne mitmachen. Und eine andere Kommilitonin, auch eine Seniorin, die kam mit und wollte das auch machen. Und dann sagte Uwe: Nee, ich kann nur eine gebrauchen, weil er gerade das Stück „Gefährliche Liebschaften“ von Christopher Hampton probte. Da kam nur eine Ältere, die Madame Rosamonde in Frage. Also jedenfalls ich bekam dann auch die Rolle. Das war ein Riesenereignis und ein großer Erfolg, den er mit dem Stück „Gefährliche Liebschaften“ da in der Barmer Ruhmeshalle, heißt ja heute Haus der Jugend, hatte. Das war schon ganz toll.“

Und auch in einem Kinofilm wirkt sie mit. Ein Aufruf in der Tageszeitung, in dem Statisten für einen Film gesucht werden, lässt sie aufhorchen. „Es wurden Statisten für den Film „Aimée und Jaguar“ gesucht. Der Film wurde teilweise in Wuppertal gedreht, in Barmen am Rathaus und in der Elberfelder Stadthalle.“ Thiel telefoniert sich durch die Agenturen und wird prompt engagiert. „Es gab lange Proben in der Elberfelder Stadthalle, eine Woche lang. Es war ja ein Film aus der Zeit des Nationalsozialismus. Entsprechende Kleidung war da auch vorgesehen und nötig, und da mussten auch eine Menge junger Männer in Soldatenuniform auftreten. Als die mal eine kleine Pause auf dem Gelände der Stadthalle machten und in ihrer Uniform nach draußen gingen, um eine Zigarette zu rauchen oder Luft zu schnappen, da dauerte es nicht lange und die Polizei kam mit Blaulicht“, erzählt sie, „da hatten sich Leute bei der Polizei gemeldet, die gesagt hatten, da ist irgendwas vom Militär im Gange. Da stimmt was nicht. Na ja, es war dann schnell aufgeklärt, aber ab sofort durfte natürlich niemand mehr nach draußen. Das war sehr interessant, schon allein diese ganze Atmosphäre beim Filmdreh und wie das so geht mit den Klappen! Ich hab das auch alles sehr genossen.“


Die Vorleserin

2009 zieht sie mit ihrer Schwester in ein neugebautes Reihenhaus im Münsterland. Die umtriebige Seniorin findet alsbald einen Malkurs, den sie seitdem jeden Montagvormittag besucht und wird Vorleserin in einem Literaturkreis. „Da kam eine ältere Frau rein und die wurde gefragt, wie sie denn zurechtgekommen sei mit dem Lesen, und sie sagte: Es ging nicht so gut, ich brauche einen Vorleser. Und ich sagte forsch, kann ich machen, ich kann vorlesen. Totenstille in dem Raum. Alle guckten mich an.“ Zwei Tage später meldet sich die Dame bei ihr und sagt: „Es wäre schön, wenn wir das mal versuchen würden. Und seitdem bin ich ihre Vorleserin, und mache das auch mit großer Freude.“ Aktuell liest sie den Roman `Die Hauptstadt´ von Robert Manesse.

Gefragt nach ihren stärksten Erinnerungen als Lehrerin, nennt sie sofort ihre Schulprojekte sowie ihre Theaterspielgruppe und den Umgang mit den Kindern. „Ich habe es gerne gemacht, bin jeden Tag gerne in die Schule gegangen“, sagt sie. Auf ihr Geburtsjahr angesprochen, sagt sie lächelnd, „ich bin 1924 in Barmen, in Wuppertal Barmen geboren“ und bedankt sich für den Besuch.

Uwe Blass (Gespräch vom 06.11.2018)

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